#5 Armin Nassehi

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Armin Nassehi, So­zio­lo­gie-Pro­fes­sor in München und einer der ein­fluss­reichs­ten Ver­tre­ter seines Fachs, spricht am 19. De­zem­ber 2022 an der Uni­ver­si­tät Bie­le­feld über "Ent­schei­dun­gen unter Un­si­cher­heits­be­din­gun­gen". Der Ort hat seinen eigenen Geist: Hier lehrte von 1968 bis zu seiner Eme­ri­tie­rung im Jahr 1993 Niklas Luhmann, durch dessen Sys­tem­theo­rie Nassehi we­sent­lich geprägt wurde. Die Frage nach den Grund­la­gen von Ent­schei­dun­gen, mit der sich Nas­sehis Vortrag aus­ein­an­der­setzt, hat in Zeiten welt­po­li­ti­scher Krisen und zu­neh­men­der Kri­sen­sym­pto­me eine be­son­de­re Be­deu­tung. Können wir die Welt retten, indem wir die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen fällen? Ist die Politik dazu in der Lage, solche Ent­schei­dun­gen vor­zu­be­rei­ten, mit Mehr­heit zu ver­ab­schie­den und um­zu­set­zen? 

Nassehi de­fi­niert Ent­schei­dun­gen als zen­tra­les Element unserer mo­der­nen Le­bens­welt. Alles muss ent­schie­den, nichts darf dem - schein­ba­ren - Zufall über­las­sen bleiben. Die Ent­schei­dung gilt dabei per se als ein ra­tio­nal fun­dier­tes, durch klugen Einsatz von Er­fah­rung und Wissen op­ti­mier­ba­res In­stru­ment zur Be­wäl­ti­gung vieler Arten von Her­aus­for­de­run­gen. Nassehi zeigt jedoch, wie sehr solche Zu­schrei­bun­gen auf Täu­schung beruhen. Jede Ent­schei­dung steckt letzt­hin in dem Dilemma, dass sie etwas Zu­fäl­li­ges zum ver­nünf­ti­gen Gesetz erhebt. Richtig zu ent­schei­den be­deu­tet mit­nich­ten, durch die best­mög­li­che Auswahl aus be­reit­ste­hen­den Al­ter­na­ti­ven eine absolut ra­tio­na­le Evidenz zu er­zeu­gen. Viel­mehr be­zie­hen sich Ent­schei­dun­gen häufig auf Kon­struk­tio­nen von Wirk­lich­keit durch Hy­po­the­sen und selbst­ge­sam­mel­te Daten oder auch auf Sug­ges­tio­nen, die ganz be­stimm­te Befunde na­he­le­gen. Ent­schei­dun­gen sind, gerade auf dem Feld der Politik, In­sze­nie­run­gen mit eigenem Wir­kungs­kal­kül. Indem die Politik na­he­legt, dass es nur ganz be­stimm­te Al­ter­na­ti­ven gibt, steckt sie selbst den Raum des zu Ent­schei­den­den ab. Die guten Gründe, die zur Fun­die­rung von Ent­schei­dun­gen an­ge­führt werden, er­wei­sen sich oft als sehr sub­jek­ti­ve Set­zun­gen und Un­ter­stel­lun­gen. Weil jede Ent­schei­dung - nicht nur die Ent­schei­dung in Kri­sen­zei­ten - unter Un­si­cher­heits­be­din­gun­gen steht, in­so­fern vorab nicht nach­weis­bar ist, welche richtig und welche falsch ist, bedarf es solcher In­sze­nie­run­gen eines dra­ma­ti­schen Ent­we­der-Oder. 

Nas­sehis Vortrag bietet neben nüch­ter­nen De­fi­ni­tio­nen auch eine Viel­zahl von Bei­spie­len - zumal aus der Corona-Krise -, die zeigen, wie sehr wir dem Nar­ra­tiv des Ent­schei­dungs­zwangs un­ter­wor­fen und wie wenig wir in der Lage sind, die Zweck­set­zun­gen zu durch­schau­en, die hinter ihm stehen. Dass So­zio­lo­gie nicht nur Abs­trak­ti­on und Be­griffs­klar­heit, sondern auch urbane Ironie, le­ben­di­ge Ex­em­pla­ri­tät und Nah­bar­keit be­deu­ten kann, de­mons­triert Armin Nas­sehis Vortrag auf in­tel­lek­tu­ell höchst an­re­gen­de und zu­gleich un­ter­halt­sa­me Weise.

Peter-André Alt
 

Datum 19.12.2022
Länge 72 min
Titel, Reihe Ent­schei­dun­gen unter Un­si­cher­heits­be­din­gun­gen, Bie­le­feld Lec­tures
Sprache Deutsch
Video Uni­ver­si­tät Bie­le­feld