#4 Werner Heisenberg

Werner Heisenberg durchlief seine wissenschaftliche Karriere in einzigartigem Tempo. Mit 21 Jahren wurde er promoviert, mit 22 Jahren habilitierte er sich, 25-jährig ging er als Professor für theoretische Physik an die Universität Leipzig, dem 30-Jährigen verlieh die Stockholmer Akademie den Nobelpreis für seine Begründung der Quantenmechanik. Den hier als Audiodatei dokumentierten Vortrag hielt Heisenberg am 9. Juli 1970 zur feierlichen Eröffnung der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, kurz vor seiner Emeritierung als Direktor des Münchner Max-Planck-Instituts für Physik. So schnell wie Heisenberg zu denken pflegte, so zügig arbeitet er sich auch durch die Thesen seines Vortrags, der mit einer betulichen Festrede nichts gemein hat. Typisch für diese späte Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist das Interesse an philosophischen Fragestellungen, denen sich Heisenberg bevorzugt von der Seite der Mathematik nähert.
Zu Beginn seines Vortrags führt Heisenberg zwei Definitionen des Schönen ein, die beide der Antike entstammen: Schön ist etwas durch die Harmonie seiner Teile; und schön ist der Glanz, der von der Ganzheit eines Phänomens ausgeht. Die zweite dieser Definitionen stammt von Plotin, sie wurde danach von Platon und Pythagoras aufgegriffen. Heisenberg zeigt nun, dass beide Bestimmungen auch für die Arbeit der Naturwissenschaft seit Beginn der Neuzeit gelten. Sie verbinden sich nämlich mit deren mathematischer Fundierung, wie sie seit Galilei und Kepler zum Standard der astronomisch-physikalischen Forschung, seit dem späten 18. Jahrhundert auch zu den Grundlagen der Chemie und Biologie gehört. Die Leistung der Mathematik besteht darin, dass sie zur "Entfaltung einer abstrakten Struktur" führt, also innere Regeln der Naturerscheinungen erschließt, die mit dem empirischen Blick nicht zu erkennen sind.
Die mathematische "Modellierung", wie wir das heute nennen, macht bestimmte Muster der Naturphänomene intellektuell wahrnehmbar. Heisenberg vergleicht sie mit den "Archetypen" des menschlichen Unbewussten, von denen der Psychiater C.G. Jung gesprochen hat. Es handelt sich um regelmäßig wiederkehrende Grundstrukturen, die durch ihr Gleichmaß und die Harmonie zwischen ihren Teilen, aber auch durch ihren ideellen Charakter den beiden Definitionen des Schönen entsprechen, die Heisenberg am Beginn seines Vortrags angeführt hatte. Das Schöne steht nicht in Widerspruch zum Exakten; naturwissenschaftliches Denken und intuitive Erfahrung ästhetischer Strukturen sind einander näher, als es zunächst den Anschein hat. Sie verbindet das Regelmaß, das uns die Mathematik eröffnet, aber auch die Unabschließbarkeit jeder menschlichen Reflexion über die Phänomene der Natur und des Geistes, die sich die Wissenschaft zum Ziel gesetzt hat. Von dieser überraschenden Gemeinsamkeit spricht Heisenbergs ebenso knapper wie gehaltvoller Vortrag im Juli 1970 in München.
Peter-André Alt
Datum 09.07.1970
Länge 29 min
Titel, Reihe Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft, Jahressitzung Bayerische Akademie der Schönen Künste
Sprache Deutsch
Audio Bayerische Akademie der Schönen Künste