
Thomas Schlichthärle
Proteine sind als Bausteine des Lebens für unzählige Prozesse im Körper zuständig. Neueste KI-Modelle können sie auf nie da gewesene Weise analysieren und optimieren. Der Biochemiker Thomas Schlichthärle entwirft mit ihrer Hilfe synthetische Proteine, die als Basis für neue medizinische Therapien dienen können.
Die Biologie ist für Thomas Schlichthärle ein System, das er optimieren will. Die Komponenten dieses Systems, die ihn besonders interessieren, sind all die Proteine, die in menschlichen Zellen lebenswichtige Aufgaben übernehmen. Wenn sie nicht richtig funktionieren, können Krankheiten die Folge sein.
„Wenn wir die Mechanismen dieser Proteinmaschinen verstehen und, warum sie defekt sind, dann können wir sie reparieren oder sogar bessere Proteine bauen als die Natur selbst“, sagt Thomas Schlichthärle. Der Biochemiker setzt dafür nicht vorrangig auf Petrischalen, Pipetten und Mikroskope, sondern auf neueste Modelle der Künstlichen Intelligenz. Sein Fachgebiet, das Protein-Design, steht an der Schnittstelle zwischen Biochemie, Strukturbiologie, Medizin und Informatik. Es ist die Kunst, Proteine nach dem Vorbild der Natur so zu entwerfen, dass sie eine gewünschte, neue Funktion übernehmen, um Vorgänge innerhalb von Zellen Richtung Gesundheit zu steuern.
„KI hat die Möglichkeiten des Protein Designs enorm beschleunigt, wir können jetzt einfach etwas ausprobieren, ein Protein entwerfen, am Computer seine dreidimensionale Struktur und somit auch seine Funktion vorhersagen“, sagt Schlichthärle, der im Juni 2025 den Lehrstuhl für „AI-guided Protein Design“ an der Technischen Universität München (TUM) übernommen hat. „Dann sehen wir, ob das Protein gut oder schlecht faltet, und können es mit Hilfe von KI-Modellen weiter verbessern, bevor es im Labor hergestellt und auf seine Funktion überprüft wird.“
Mit den Methoden des Protein Designs bringen wir die Zellen dazu, das zu tun, was wir ihnen vorgeben.
So ist es ihm und anderen Protein-Designern etwa gelungen, den Wachstumsfaktor NGF (Nerve Growth Factor) so umzuprogrammieren, dass er weiterhin die von Medizinern erwünschte Aufgabe erfüllt, geschädigte Nerven zu reparieren, dabei aber keine Schmerzen auslöst. Die Forschenden haben dafür ein neues Protein entwickelt, das nicht mehr an einen Schmerzrezeptor bindet, ansonsten aber die gleiche Aktivität wie der ursprüngliche NGF vorweist. „Es kann überall dort eingesetzt werden, wo periphere Nerven beschädigt sind und regeneriert werden sollen“, sagt Schlichthärle. Die Schmerzen bleiben den Patient:innen dann erspart.
30.000 potenzielle Proteinstrukturen für einen perfekten Kandidaten
Doch wie genau entsteht so ein optimiertes Protein? Schlichthärles Team nutzt dafür drei verschiedene KI-Modelle. Ein sogenanntes Diffusionsmodell generiert zunächst auf der Basis unstrukturierter Daten und bestimmter Vorgaben – etwa der Vorgabe, nicht an einen bestimmten Schmerzrezeptor zu binden – bis zu 30.000 Proteinstrukturen. Ein zweites KI-Modell findet die dafür passende Aminosäuresequenz, die dem Protein zugrunde liegt und die Voraussetzung dafür ist, dass es sich in seine dreidimensionale Struktur faltet. Zuletzt prüft das mächtige Strukturvorhersage-Modell AlphaFold, wie gut die entworfenen Proteine sind.
„Mit Hilfe von selbst entwickelten Programmen, wählen wir die besten Proteine aus und füttern diese wieder in das erste Modell“, erklärt Schlichthärle. Nach zwei bis drei Durchläufen stehen 96 aussichtsreiche Protein-Kandidaten fest, die anschließend im Labor mit Hilfe von Bakterien hergestellt und auf ihre Funktion getestet werden.
Vom Krankenwagen zum Protein-Design
Für Schlichthärle führte der Weg zum Protein-Design über die Medizin. Schon während seines Freiwilligen Sozialen Jahres als Krankenwagenfahrer beschloss er, Menschen zu helfen. Aber nicht als Arzt, sondern als Forscher. Er studierte Molekulare Medizin in Tübingen, dann Bioengineering in Dresden. Seine Masterarbeit im Bereich DNA-Nanotechnologie schrieb er am Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering in Boston. In seiner Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried befasste er sich damit, Proteine mit „Tags“ molekular zu markieren, damit man sie unter hochauflösenden Mikroskopen erkennen kann.
Mich störte, dass wir nur ein Drittel der Proteine in der Zelle sehen können.
Er programmierte mathematische Simulationen, um die Lücken zu schließen. Dann, es war 2017, hörte er bei einem Vortrag des US-Biochemikers David Baker von den Möglichkeiten des Protein-Designs. „Mir war sofort klar, dass wir mit seinen Methoden deutlich bessere Tags bauen können“, sagt er.
Fast fünf Jahre blieb Schlichthärle als Postdoc in Bakers Labor an der University of Washington. Er sog die Methoden des Protein-Design auf wie ein Schwamm. 2024, in seinem letzten Jahr in Seattle, wachte er an einem Oktobermorgen um vier Uhr auf, schaute auf sein Handy und sah die Nachrichten: Der Nobelpreis für Chemie war David Baker für seine Erfolge im computergestützten Proteindesign verliehen worden. Die andere Hälfte des Preises ging an Demis Hassabis und John Jumper von Google DeepMind für die Entwicklung des KI-Modells AlphaFold2, das die 3D-Struktur von Proteinen aus ihrer Aminosäuresequenz vorhersagen kann.
„Nach der Pressekonferenz kam David ins Labor und dann haben wir zusammen gefeiert“, sagt Schlichthärle. Ihnen allen war klar: Der Nobelpreis ist ein Anfang, kein Abschluss – das Protein Design war jetzt so weit, dass es zum Einsatz kommen konnte, um alle möglichen Anwendungsprobleme anzugehen – von der Therapieentwicklung bis zur Entwicklung neuer Enzyme für industrielle Anwendungen, beispielsweise für den effizienten Abbau von PET in Plastikflaschen.
Seine Gruppe hatte um die 100 Leute, aber er war immer für uns da, wenn wir Fragen hatten oder wenn er mit uns mittags in der Küche saß und seinen Salat gegessen hat.
Schlichthärle zog es von Seattle zurück nach München. Die Zeit an der Westküste der USA war für ihn ein Motivationsbooster. Wegen des Nobelpreises. Aber auch, weil David Baker ihn als Forscherpersönlichkeit zutiefst beeindruckt hatte. „Seine Gruppe hatte um die 100 Leute, aber er war immer für uns da, wenn wir Fragen hatten oder wenn er mit uns mittags in der Küche saß und seinen Salat gegessen hat“, erinnert er sich.
Ein solide Basis für eine virtuelle Zelle
An der TUM will Schlichthärle nun mit den Methoden des Protein-Designs hoch-effiziente „Tags“ entwickeln, um 90 Prozent der in Zellen vorkommenden Proteine molekular zu markieren und sichtbar zu machen „Die Tags wollen wir über ein Startup zur Verfügung stellen und die zugehörigen Proteinsequenzen offen mit der Forschungs-Community teilen.“
Sobald die ersten Grundlagen geschaffen sind, will Schlichthärle in Kooperationen mit Klinikern neue Proteine entwerfen, etwa für neue Krebsimmuntherapien oder für die effiziente Herstellung von spezialisierten Zelltypen aus Stammzellen zur Überprüfung der Wirksamkeit neuer Medikamente. Für die Zukunft schwebt ihm eine virtuelle Stammzelle vor, die nicht im Labor, sondern am Rechner mit neu designten Wachstumsfaktoren angeregt wird. Eine Art digitale Petrischale, die reale Zellreaktionen voraussagen kann. Nicht weniger also, als eine neue Basis für die Medikamentenentwicklung.
«Viele internationale Forschende wissen gar nicht, was in Deutschland möglich ist» Lesen Sie im Interview mit Thomas Schlichtärle, warum er sich für die Rückkehr nach Deutschland entschieden hat und wie er auf das deutsche Wissenschaftssystem blickt.

Thomas Schlichthärle ist seit Juni 2025 Professor für AI-guided Protein Design an der Technische Universität München (TUM). Zuvor war er für seine Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried und der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig und als Postdoc im Labor des Nobelpreisträger David Baker an der University of Washington. Er ist mit Unterstützung der Wübben Stiftung Wissenschaft im Programm „Appointment Accelerator“ nach Deutschland zurückgekehrt.
Seit 2025
Tenure-Track-Professur für AI-guided Protein Design, Technische Universität München
2021
EMBO Postdoctoral Fellowship
2020 - 2025
Postdoc, David Baker Lab, Universität von Washington in Seattle
2014 - 2020
Promotion in Biochemie, Max-Planck-Institut für Biochemie / Ludwig-Maximilians-Universität München
2014
Roland Ernst Stipendium