
„Viele internationale Forschende wissen gar nicht, was in Deutschland möglich ist“
Wie gelingt der Spagat zwischen internationaler Spitzenforschung und deutscher Wissenschaftsbürokratie? Der Biochemiker Thomas Schlichthärle, der an renommierten Institutionen in Boston und Seattle tätig war, hat sich für die Rückkehr nach Deutschland entschieden – trotz lukrativer Alternativen in den USA. Im Gespräch berichtet er von Gehältern jenseits der 250.000-Dollar-Grenze, ungenutztem Start-up-Potenzial und dem Wunsch nach einem dynamischeren deutschen Wissenschaftssystem.
Warum sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?
Ich habe zunächst überlegt, ob ich zu einem Start-up oder einer sogenannten Focused Research Organization (FRO) wechseln sollte. Die USA sind in diesem Bereich sehr attraktiv. Solche Organisationen zahlen Gehälter, die Universitäten nicht bieten können – 250.000 Dollar jährlich sind üblich. US-Universitäten sind ebenfalls attraktiv, besonders in der Medizin. Aber dort gilt: Vieles hängt an Drittmitteln, und nach drei Jahren soll man das eigene Gehalt selbst finanzieren. Das Angebot der Technischen Universität München – unterstützt durch Mittel der Wübben Stiftung – war für mich überzeugender. Die TUM ist eine Destination University, sie bietet exzellente Forschungsbedingungen, eingebettet in das starke Münchner Ökosystem mit den beiden erstklassigen Universitäten, Instituten der Helmholtz- und Max-Planck-Gesellschaft sowie einer dynamischen Start-up-Kultur, die gezielt durch die TUM Venture Labs gefördert wird.
Was schätzen Sie am deutschen akademischen System im Vergleich zu den USA?
Die Grundfinanzierung ist solide. Ich will mein Gehalt nicht jährlich über Drittmittel zusammensuchen müssen. Zudem gibt es interne Fördermöglichkeiten und eine Vielzahl an externen Förderlinien, zum Beispiel über die DFG, den ERC oder auch Stiftungen. Ein weiterer Pluspunkt ist die Infrastruktur. In den USA kostet oft jedes Gerät – zum Beispiel 40 Dollar pro Stunde fürs Mikroskopieren. In Deutschland geht vieles informeller: Man fragt im Nachbarlabor. Das klappt in München dank der offenen Struktur gut.
Was müsste aus Ihrer Sicht noch verbessert werden?
Es braucht mehr übergreifende Strukturen. Die wichtigsten Forschungsgeräte, die Core Facilities, benötigen festes Personal, sogenannte Staff Scientists. An Universitäten fehlen sie fast völlig. Vieles bleibt an Promovierenden hängen, was ineffizient ist. Die Max-Planck-Institute machen das besser. Auch bei High-End-Infrastruktur wie GPU-Cluster zur Datenverarbeitung, Kryoelektronenmikroskopie oder Massenspektrometrie sollte man stärker auf gemeinsame Nutzung setzen – nicht jedes Labor muss alles selbst besitzen. Zudem wären mehr Tenure-Track-Stellen wichtig und es sollte eine größere Durchlässigkeit in den Karrierewegen zwischen Industrie und Wissenschaft geben. Längere Tätigkeiten in der Industrie dürfen nicht zum Nachteil werden.
Tun deutsche Universitäten genug, um internationale Forschende zu gewinnen?
Die Angebote sind definitiv konkurrenzfähig – aber schlecht kommuniziert. Während man in den USA als Gruppenleiter ein Gesamtpaket von etwa 1,5 bis 2 Millionen Dollar angeboten bekommt, werden in Deutschland einzelne Posten wie beispielsweise die Stellenausstattung separat ausgewiesen. Die Gesamtsumme bewegt sich jedoch in einem ähnlichen Umfang. Max-Planck hat das erkannt: Dort gibt es pauschal 2,7 Millionen – das ist international sehr attraktiv. Was fehlt, ist besseres Marketing. Viele internationale Forschende wissen auch gar nicht, was in Deutschland möglich ist. So sind die Universitäten in vielen Fällen bereits mit exzellenter Geräteinfrastruktur ausgestattet, die man über Kollaborationen sehr gut mitbenutzen kann. Das muss aber deutlich besser kommuniziert werden. Auch internationale Ausschreibungen sind oft schlecht sichtbar.
Wie informieren sich internationale Forschende über Stellen in Deutschland?
Den meisten ist nicht klar, wo sie suchen sollen. Ich abonniere den ZEIT-Newsletter – aber der ist sehr deutsch. In den USA läuft viel über die sozialen Netzwerke. Deutschland braucht ein besseres internationales Ausschreibungsmarketing. Und eine strategischere Berufungspolitik: Lücken erkennen und gezielt suchen.
Wie lief Ihr eigenes Berufungsverfahren an der TUM?
Bewerbung im Juni, Interview im Oktober 2023. Danach: Funkstille. Erst im Mai 2024 meldete sich der Präsident persönlich – das hat Eindruck gemacht. Im Juli folgten die Verhandlungen. Im Februar 2025 habe ich das Berufungsangebot dann angenommen.
Dauern Berufungsverfahren in Deutschland immer so lange?
Ja häufig, insgesamt dauerte der Prozess bei mir fast zwei Jahre. Allein zwischen Vortrag und Rückmeldung vergingen Monate. In Schweden, wo ich mich ebenfalls auf eine interessante Stelle beworben hatte, ging es deutlich schneller: Bewerbung im September, virtuelle Vorgespräche Ende Oktober, Interview im Januar, drei Wochen später war ich auf der Shortlist – mit transparenter Kommunikation.
Welche Rolle spielt Sprache?
Eine große. Viele Verwaltungsprozesse laufen auf Deutsch. Für internationale Kolleginnen und Kollegen ohne Deutschkenntnisse ist das eine erhebliche Hürde und bereitet Schwierigkeiten. Schon bei der Suche nach einer Teamassistenz zeigt sich, wie sehr fehlende Englischkenntnisse die Auswahl einschränken. Um die Internationalisierung nachhaltig zu fördern, wäre eine durchgängig zweisprachige Verwaltung ein entscheidender Schritt nach vorne.
Was würde internationalen Forschenden den Einstieg noch erleichtern?
Ein Gästehaus wie bei Max-Planck: drei bis sechs Monate Unterkunft – das nimmt viel Druck am Anfang raus. Hier an der TUM habe ich eine persönliche Ansprechperson von der TUM School of Natural Sciences, die mich unterstützt, das ist super. Noch hilfreicher wäre es, wenn direkt zu Beginn eine feste, eingearbeitete administrative Unterstützung für die Arbeitsgruppe vorhanden wäre.
Was waren Ihre ersten Herausforderungen in München?
Kalendermanagement (lacht). Klingt banal, braucht aber Organisation. Sonst lief es gut: Eine Wohnung war schnell gefunden. Die TUM bietet über den Freistaat Bayern und die Wübben Stiftung sehr gute Unterstützung: Zwei Monate Mietzuschuss in München, sechs Monate doppelte Miete bei Überschneidung mit Seattle.
Ihre Professur an der TUM heißt „Professur in AI-guided Protein Design” – welche Anwendungen können sich aus Ihrer Forschung in Zukunft ergeben?
Es gibt derzeit ein regelrechtes Wettrennen im Bereich der Medikamentenentwicklung, um Antikörper komplett mit hohen experimentellen Erfolgsraten am Computer zu erzeugen. Zudem eröffnet sich ein zweites, ebenso spannendes Anwendungsfeld: die industrielle Biotechnologie. Gerade dort spielen Enzyme eine zentrale Rolle, etwa bei der Entwicklung von Waschmitteln, beim Plastikrecycling durch den Abbau von PET oder in der biotechnologischen Lebensmittelproduktion. Der große Vorteil in diesem Bereich: Man benötigt keine aufwändigen klinischen Studien wie in der Medikamentenentwicklung. Dadurch können neue Produkte deutlich schneller bis zur Marktreife gebracht werden. Und die KI-Methoden sind inzwischen so leistungsfähig, dass sich Enzyme tatsächlich gezielt für ganz bestimmte Aufgaben entwerfen lassen.
Wie kompetitiv ist Deutschland in Ihrem Forschungsbereich?
In München gibt es inzwischen drei Gruppen im Protein-Design: Alena Khmelinskaia (LMU), Lukas Milles (MPI/LMU) und mich – alle aus Seattle, alle aus derselben Community. In Leipzig ist Jens Meiler, in Bayreuth Birte Höcker. Das Ökosystem wächst, ist aber noch jung. Allerdings scheint Europa gerade aufzuwachen: die Boehringer Ingelheim Stiftung unterstützt in Wien ein neues Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in der Biomedizin und die Novo Nordisk Foundation hat soeben den Aufbau eines mit knapp 100 Millionen Dollar ausgestatteten Forschungszentrums für Protein Design in Kopenhagen angekündigt. Beim Technologietransfer ist Deutschland allerdings noch im großen Rückstand. Zum Vergleich: Im Bereich der KI für die Medikamentenentwicklung sind in den USA inzwischen drei große Startups entstanden: Xaira Therapeutics, gegründet mit maßgeblicher Beteiligung des Baker Labors hat eine Milliarde Dollar eingeworben, Generate Biomedicine in Boston ca. 600 Millionen und Isomorphic Labs, das zu Alphabet Inc. und damit Google gehört, hat bereits Milliardenverträge mit der Pharmaindustrie abgeschlossen. Hier müssen wir aufholen, sonst verlieren wir den Anschluss.
Warum ist der Technologietransfer in Deutschland immer noch eher gering?
Das ist eine spannende Frage. Ich denke es liegt nicht am Kapital, sondern am Spirit. In den USA sind Gründer viel mutiger, trotz fehlender sozialer Absicherung. In Deutschland ist das Risiko auf der Straße zu landen dank sozialer Absicherung praktisch nicht vorhanden. Aber vielleicht bremst gerade diese Sicherheit. Es müssten deutlich mehr „Probier-“Formate etabliert werden, die kleine dynamische Teams und Projekte beim Start unterstützen. Formate wie die Sandpits der Wübben Stiftung sind da perfekt: kleine, flexible Förderungen um neue, innovative Forschungsgebiete zu erschließen und Pilotprojekte anzustoßen. Für die Weiterentwicklung braucht es später zusätzliche Mittel – aber als Einstieg ist das sehr wertvoll.
Wie entstand Ihr Fokus auf KI und computergestützte Verfahren?
Eine prägende Erfahrung in meiner Karriere war definitiv meine Masterarbeit am Wyss Institute in Boston. Dort lernte ich Ralf Jungmann kennen. Ihm bin ich nach Deutschland gefolgt und promovierte am MPI für Biochemie in München. Dabei habe ich mich stark mit der Super-Auflösungsmikroskopie und computergestützten Methoden zur Datenanalyse beschäftigt. Ein zentrales Problem konnten wir jedoch nie lösen: Die Proteine müssen für die Mikroskopie immer über sogenannte Labels markiert werden, wofür wir meist Antikörper verwenden. Als ich David Baker bei einem Vortrag am Institut erlebte, wurde mir klar, dass sich mit seinen Technologien deutlich schneller kleinere Labels entwerfen lassen, die besser für die Mikroskopie geeignet sind. Das war der Anstoß, meinen Postdoc am Institute für Protein Design in Seattle zu beginnen.
Spielte es für Ihre Karriere eine Rolle, im Labor eines späteren Nobelpreisträgers gearbeitet zu haben?
Definitiv. Als David den Nobelpreis erhielt, war das ein besonderer Moment. Am Tag der Bekanntgabe war Champagne Day im Labor (lacht). Es war eine spannende Zeit – auch wissenschaftlich: KI hat das Feld in der Zeit, in der ich dort war, grundlegend verändert.
Vielen Dank für das Gespräch.
Thomas Schlichthärle studierte Molekulare Medizin in Tübingen und Molecular Bioengineering an der TU Dresden. Nach einem Auslandsaufenthalt am Wyss Institute in Boston begann er seine Promotion am Max-Planck-Institut für Biochemie in München. Danach wechselte er als Postdoktorand ins Labor von David Baker an die Universität von Washington in Seattle und arbeitete dort an synthetischen Proteinen für das Zellwachstum. Im Jahr 2025 wurde er mit Unterstützung der Wübben Stiftung Wissenschaft als Tenure Track Assistant Professor (W2) für AI-guided Protein Design an die Technische Universität München (TUM) berufen. Seine Forschung konzentriert sich auf KI-gestütztes Protein-Design zur Steuerung zellulärer Entscheidungsprozesse. Ziel ist es, synthetische Proteine zu entwickeln, die Signalwege gezielt modulieren, detektieren oder umprogrammieren können. An der Schnittstelle von Maschinellem Lernen, Strukturbiologie, Synthetischer Biologie und Biomedizin entwickelt das Labor neue Protein-Designmethoden und validiert diese in zellbasierten Systemen.