
Joana Wagner
Ostrakoden öffnen Fenster in die Vergangenheit: Joana Wagner liest aus ihren winzigen Kalkklappen, wie sich Meere erwärmten, Gletscher schmolzen und Ökosysteme wandelten. Ihre Forschung in arktischen Sedimentkernen hilft zu verstehen, was die Polarregionen einst prägte – und was ihnen heute droht.
Ostrakoden sind kleine Krebstiere, die zwei muschelähnliche Klappen am Körper tragen. Sie existieren seit dem Ordovizium – also seit fast einer halben Milliarde Jahre. Ihre kalkigen Klappen speichern chemische Signale vergangener Umweltveränderungen, die wir mit geochemischen Methoden analysieren können. Für meine Bachelorarbeit habe ich Ostrakoden in einem Sedimentkern untersucht, der im Arktischen Ozean nördlich von Svalbard in Norwegen gewonnen wurde. Der 4,62 Meter lange Kern reicht in den tiefsten Schichten bis zu 16.300 Jahre zurück und deckt damit den gesamten Bereich vom Ende der letzten Eiszeit bis in unsere Warmperiode ab.
Erst unter dem Mikroskop merkt man, welche Wunder in so einer Sedimentprobe stecken.
Ein Team von Geolog:innen hat anhand der Probe bereits die Sedimentherkunft, die Strömungsverhältnisse und die Wassertemperatur rekonstruiert, um die Dynamik der Gletscherschmelze zum Ende der letzten Eiszeit besser zu verstehen.
Mit den Ostrakoden konnte ich diese Berechnungen bestätigen. Alle zehn Zentimeter habe ich Sedimentproben aus dem Kern entnommen und die Ostrakoden-Klappen unterm Mikroskop bestimmt und ausgewertet. Die Artenzusammensetzung verrät uns viel über die damaligen Umweltbedingungen: Einige Arten bevorzugen kälteres Wasser, andere sind mehr oder weniger tolerant gegenüber Sauerstoffmangel oder reagieren empfindlich auf Strömungsverhältnisse.
Unsere Arbeit liefert eine wichtige Grundlage für zukünftige Ökosystem- und Klima-Modellierungen.
Zusätzlich analysiere ich die Klappen. Das Verhältnis der stabilen Isotope darin gibt Auskunft über den Stoffaustausch mit dem umgebenden Wasser sowie die Temperatur am Meeresgrund. Wenn Sauerstoffisotopenverhältnisse niedrig sind, heißt das, dass in dieser Zeit viel Frischwasser zugeflossen ist – von schmelzenden Gletschern.
Die Svalbard-Region erwärmt sich heute vier- bis sechsmal schneller als andere Gegenden. Was dort passiert, könnte in 20 bis 40 Jahren auch anderswo in der Arktis geschehen. Um diese Entwicklungen besser zu verstehen, ist es entscheidend, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Unsere Arbeit liefert damit eine wichtige Grundlage für zukünftige Ökosystem- und Klima-Modellierungen.
Seit ich denken kann, hatte ich einen sehr intensiven Bezug zu den Polarregionen. Als Kind habe ich im Skiurlaub – umgeben von Schnee und Eis – Bücher über die Tiere der Arktis und Antarktis gelesen. Ich wollte Eisbären und Pinguinen helfen, ein „schönes Leben“ zu haben. Deshalb habe ich zunächst Tiermedizin studiert. Aber die Arbeit mit einzelnen ‚Patienten‘ war mir nicht genug – ich wollte die Ursachen der Probleme verstehen. So kam ich zu den interdisziplinären Biogeowissenschaften.
Meine Lieblingsart unter den Ostrakoden ist derzeit Rabilimis mirabilis. Ihr Name klingt wie ein Zauberspruch, aber wenn sie häufig vorkommt, ist das ein Anzeichen für ein Heinrich-Event. In diesen Phasen lösen sich riesige Eisberge von Gletschern.
Ostrakoden sind auch heute noch überall – im Grundwasser und in kleinsten Pfützen oder sogar feuchten Wiesen. Man kann mit ihrer Hilfe feststellen, wie sehr menschliche Einflüsse Gewässer belasten. Ihre Schalen reagieren empfindlich auf Schadstoffe: Schwermetalle können sie zum Beispiel deformieren. Das lässt sich unter dem Mikroskop nachweisen.
Für meine Masterarbeit möchte ich den menschlichen Einfluss auf die Fjorde in Norwegen genauer anschauen. Mithilfe von Ostrakoden will ich besser verstehen, wie diese Regionen auf den Klimawandel und anthropogene Einflüsse wie Schadstoffeinträge oder mechanische Störungen reagieren. Langfristig möchte ich dazu beitragen, Ostrakoden als Indikatoren für Veränderungen in Polarregionen weiter zu etablieren, um solche Veränderungen früher identifizieren und fundierter beurteilen zu können.

Joana Wagner hat Veterinärmedizin an der Universität Leipzig studiert. Für ein aufbauendes Studium der Biogeowissenschaften ist sie an die Universität Jena gegangen. Derzeit bereitet sie sich dort in der Arbeitsgruppe für Paläontologie auf ihre Masterarbeit zu arktischen und antarktischen Mikrofossilien vor. Wagner engagiert sich in der Association of Polar Early Career Scientists (APECS) und setzt sich in verschiedenen universitären Gremien für die Bedeutung von Wissenschaftskommunikation ein. 2024/25 war sie Student-Grant-Stipendiatin der Wübben Stiftung Wissenschaft.